Leseprobe „Die Kettenhunde“

Prolog

Kein Klopfen, sondern ein heftiger Schlag. Holz splitterte. Die Tür krachte gegen die Wand.
Sie fuhr zusammen und riss die Hände vors Gesicht. Ihr Bruder stand neben ihr. Ehe sie noch ein Wort an ihn richten konnte, stürmten fremde Männer in die Wohnung und riefen: „Polizei, Polizei!“
Dieses Wort war eins der ersten gewesen, die sie in dem fremden Land gelernt hatte, denn José war immerzu auf der Hut vor der policía. Sie hatten ihn nie gefasst. Erst jetzt, wo sie praktisch auf dem Weg nach Hause waren, kamen sie. Es war nicht zu glauben, und sie wünschte sich, dass alles nur ein böser Traum war. Gestern hatte er ihr versprochen, nein, er hatte ihr bei der heiligen Mutter Gottes geschworen, mit ihr zu kommen.
Sie wich rückwärts in das kleinere Zimmer. Vom ersten Moment an hatte sie diese Wohnung scheußlich gefunden, die Räume waren düster, es gab keine Möbel, nur ein paar schmutzige Matratzen. Man konnte sich nicht vorstellen, hier zu leben. Dazu kam der stete Verkehrslärm, der auch nachts nicht abriss. Am schlimmsten aber war der Geruch, dieser Gestank nach Schweiß und nach Katzenpisse, der in der Wohnung lag und der nicht wich, egal wie viel man lüftete.
Mit der Ferse spürte sie die hölzerne Schwelle, die die beiden Zimmer voneinander trennte. Sie hob den Fuß und glitt hinüber. Die Männer waren überall. Sie hatten Waffen in der Hand. Zwar schrien sie nicht mehr, doch sie wirkten herrisch, als sie in jede Ecke schauten und sich knappe Anweisungen zuriefen.
Langsam erreichte sie die andere Seite der Tür. José, der im größeren Raum geblieben war, hatte seine Arme ausgebreitet und die Finger ausgestreckt. Zu Hause, in Mexiko, war es das Wichtigste, Angreifern zu zeigen, dass man nicht bewaffnet war. Dann gab es zumindest die Chance, dass sie einen verschonten.
Mit beiden Händen hielt sie sich am Türrahmen fest, der sie einigermaßen verdeckte. Der Lack fühlte sich glatt an. Sie legte ihre Stirn dagegen. Ihre Augen hätte sie am liebsten geschlossen, als könnte nicht passieren, was sie nicht sah. Das war natürlich ein Kinderglaube, einer erwachsenen Frau unwürdig.
Die Angst hatte sie starr werden lassen. Es war ihr nicht möglich, ihren Platz hinter dem Türrahmen zu verlassen und zu José zu laufen, um ihn zu beschützen. Einer der Eindringlinge war in ihrer Nähe, auch er war bewaffnet. Sie schaute zu José, der im anderen Zimmer auf die Knie sank. Es sah aus, als würde er Gott anrufen und um Hilfe bitten. Ein Bild, das nicht der Wahrheit entsprach. Die pistoleros hatten ihn gezwungen niederzuknien. Sie bedrohten ihn. Er betete nicht.
Sie wollte sich losreißen, ihr sicheres Versteck aufgeben, hinübergehen und José an der Hand mit sich nehmen. Mit ihm fortlaufen und nach Hause fahren. Es war der größte Wunsch ihres Vaters, seinen Sohn noch einmal zu sehen, und viel Zeit blieb nicht mehr, denn die Krankheit schritt schnell voran.
Dann hörte sie plötzlich Geschrei, das sie nicht zuordnen konnte.
Im nächsten Moment wurde geschossen. Drei Mal.
Mit seinen ausgebreiteten Armen sackte José zusammen. Er schien um Gnade zu flehen, doch auch dieses Bild täuschte. Von den Knien fiel er auf den Boden, und aus seinem Nacken spritzte das Blut.
Sie schlug sich die Hand vor den Mund. Ihr Aufschrei erstarb.
Vor ihren Augen wurde es schwarz.

Kapitel 1

Grau war die Farbe des Himmels wie die dieses Tages. Eine Wolkendecke ohne Anfang und Ende ging nahtlos in das fahle Licht des späten Nachmittags über. Büsche und Bäume in den Gärten verharrten in ihrem Winterschlaf. Sie wirkten genauso farblos wie die Autos zu beiden Seiten der Straße, die von einer matten Staubschicht überzogen waren. Unter den Sohlen von Larissa Rewald und ihrem kleinen Sohn, der an ihrer Hand neben ihr hertrippelte, knirschte dunkles Steingranulat, vor Wochen gegen Glatteis auf den Bürgersteig gestreut und nach dem Tauwetter nicht weggekehrt. Die Kiesel hatten sich inzwischen mit Unrat vermischt, mit Hundekot, Zigarettenfiltern, Plastikteilchen und Papierschnipseln.
Eine graue Masse aus Dreck.
Jonas schien all das nicht zu sehen. Für ihn, den im März Geborenen, gab es nur ein Thema: „Wie oft noch?“
Obwohl ihr klar war, was er wissen wollte, hakte sie nach. Sie liebte es, wenn er sich Mühe gab und die Worte suchte, um präziser zu werden. „Was meinst du?“
„Wie oft noch schlafen?“ Er klang ungeduldig. Offenbar war es ihm nicht begreiflich, wie sie eine derart dumme Gegenfrage hatte stellen können. „Bis ich Geburtstag habe.“
„Lass mal sehen.“ Während sie aufzählte, hob sie jeweils einen Finger: „Freitag, Sonnabend, Sonntag, Montag, Dienstag. Fünf Mal noch, würde ich sagen. Und wie alt wirst du?“
Er brauchte nicht zu überlegen. „Auch fünf“, rief er und strahlte.
Die neue Ziffer bestätigte nur seine Entwicklung. Sein Körper hatte sich in den vergangenen Monaten gestreckt, sein Gesicht war schmaler, der Blick ernsthafter geworden. Sie strich ihm übers Haar. „Großer Junge.“
Dabei stieß Larissas Magen ein tiefes Geräusch aus, ein Knurren, das gar nicht wieder aufhören wollte. Am Anfang ihres Weges hatte er nur gegrummelt, doch nun beschwerte er sich lautstark. Sie hatte Hunger wie ein Bär. Jonas blieb stehen, schaute sie an und schien besorgt. Aber dann verdrehte er die Augen, unterdrückte ein Grinsen und sagte mit gespieltem Vorwurf: „Mama!“
Sie stellte sich das bevorstehende Abendessen vor, mit frischem Brot und verschiedenen Käsesorten, mit Rührei und Salat. Hoffentlich hatte Michael bereits den Tisch gedeckt. Sie hatte es eilig. Mit einer Kopfbewegung in Richtung auf ihr Zuhause zog sie den Jungen weiter. Die Tasche mit den Einkäufen hatte sie sich über ihre andere Schulter gehängt. Ihrem Magen entfuhr ein weiteres Knurren.
Jonas achtete nicht mehr darauf. Er war zu seiner Tagesordnung zurückgekehrt. „Was glaubst du, was ich geschenkt kriege?“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Doch, hast du!“
„Woher willst du das wissen?“
„Weil … weil … ich weiß es eben. Du kaufst die Geschenke.“
„Oder Papa.“
Er überlegte. „Stimmt. Er würde es dir erzählen.“
„Vielleicht. Und würde ich’s dir weitersagen?“
Er ließ ihre Hand los, blieb stehen und schmollte. Dabei stampfte er mit dem Fuß auf. „Sollst du aber!“
Ihr Bauch beschwerte sich ein weiteres Mal. An der Stelle, wo der Magen saß, fühlte es sich an, als habe sie ein einziges großes Loch. Seit dem Frühstück hatte sie nichts weiter gegessen als eine ungeschälte Möhre und einen zerdrückten Schokoriegel, der in ihrer Handtasche überwintert hatte. Keine Kantine, kein Imbiss, nichts dergleichen. Nach der Schießerei vom Vortag hatte sie im Büro nichts verpassen wollen, kein Gespräch, nicht einmal ein Wort oder eine Andeutung. Trotz ihrer Fragen hatten die Kollegen ihr direkt nach dem Vorfall keine Einzelheiten berichtet, und da sich das große Schweigen heute fortgesetzt hatte, war ihr Ansinnen gewesen, sich die Geschehnisse aus der Unterhaltung der Männer zusammenzureimen. Deshalb war sie, auch wenn sie immerzu so getan hatte, als sei sie beschäftigt, vor allem aufmerksam gewesen.
Zwischendurch fielen die vier Kollegen, mit denen sie den Raum teilte, in leise Tonlagen, in Geflüster und Getuschel, verständlich allein für den, der am Nachbarschreibtisch saß. Aber Larissa hatte ein scharfes Gehör, und je mehr Mühe ihre Kollegen sich gaben, desto wacher wurde sie. Schlug nicht auf Tasten, knisterte nicht mit Papier. Stellte sich lesend. Lauschte.
Es war, soweit sie gehört hatte, nicht um den Toten vom Vortag gegangen, kein einziges Mal. Der Vorfall schien keinen der Kollegen zu belasten, der Tathergang war offenbar weder strittig noch problematisch. Sie verstand dieses Verhalten nicht. Einer von ihnen hatte einen Bericht zu schreiben, der nicht nur der Wahrheit zu entsprechen hatte, sondern auch plausibel sein musste, es durfte keine Widersprüche geben und keine abweichende mündliche Aussage. Untersuchungen standen an, die Staatsanwaltschaft würde sich interessieren, und falls wegen des Schusswaffengebrauchs mit tödlichem Ausgang Zweifel blieben, auch das Dezernat für Polizeidelikte. All das bedeutete jede Menge Scherereien. Erklärungen mussten beigebracht und Gründe geliefert werden. Unabdinglich war, dass die Abteilung mit einer Stimme sprach. Dennoch schien ihr Chef, Peter Bendix, keine Notwendigkeit zu empfinden, Larissa mit einzubeziehen, und auch die Kollegen bereitete er nicht auf eine gemeinsame Sprachregelung vor. Vielmehr tat er so, als habe es den Vorfall gar nicht gegeben. Schlürfte seinen schwarzen Kaffee, machte Witzchen oder arbeitete. Oder er tuschelte mit den anderen Männern.
Larissa dagegen beschäftigte der Vorfall. Sie wollte unbedingt mehr erfahren. Ihr war nicht wohl, auf ihrer Stirn lag ein klebriger Schweißfilm, obwohl es im Büro alles andere als warm war. Sie roch streng. Wie festgewachsen saß sie auf ihrem Platz in dem großen Altbauraum, abseits von den anderen, mit dem Rücken zum Fenster. Sie war das fünfte Rad in dieser Abteilung, der Neuling. Diejenige, die nicht eingeweiht wurde. Auch dann nicht, wenn es ernst war.
Gegen das allgemeine Schweigen setzte sie ihre Ausdauer ein, ihr Sitzfleisch. Auf keinen Fall wollte sie vor den anderen nach Hause gehen. Im nächsten Moment, so befürchtete sie, würde das Gespräch anfangen. Am Nachmittag holte sie ihr Handy hervor und machte sich daran, Michael eine SMS zu schreiben und ihn zu bitten, Jonas von der Kita abzuholen. Aber dann stand plötzlich der Kollege Wollmann, Wolle genannt, auf, verstaute seine Butterbrotdose, klappte laut die Aktentasche zu und erklärte: „So ruhig, wie es heute ist, werde ich ein paar Überstunden abbummeln. Freunde, wir sehen uns morgen.“
„Das mache ich auch“, sagte im nächsten Moment der blonde Andy Morowitz und verschwand ebenfalls.
Larissa war über diese Entwicklung erleichtert, vor allem deshalb, weil sie nicht schon wieder Michael bitten musste. In der letzten Zeit hatte ihre Aufteilung in Bezug auf die Kinderbetreuung eine ziemliche Schlagseite bekommen. Was die verbliebenen beiden Kollegen miteinander ausheckten, konnte sie sowieso nicht kontrollieren, sie zogen nach Feierabend in ihre Stammkneipe, und das war ein Ort, zu dem Larissa keinen Zugang hatte. Sie wusste nicht einmal, um welches Lokal es sich handelte. Doch was zwei von ihnen besprachen, war schließlich nicht Stand der gesamten Abteilung. Deshalb hatte sie sich vorgenommen, am nächsten Morgen zeitig zu erscheinen, und sich mit einem knappen Gruß ebenfalls in den Feierabend verabschiedet. So rechtzeitig, dass sie noch einkaufen und ihren Sohn abholen konnte, wie es verabredet war.
„Mama“, sagte Jonas nun und zeigte mit seinem kurzen Finger nach vorne, ungefähr dorthin, wo ihr Haus stand, „da sind Autos. Bei uns.“
Sie folgte mit dem Blick der Richtung, in die ihr Sohn deutete. Er hatte scharfe Augen, ihr Haus war noch ein ordentliches Stück entfernt. Tatsächlich, da parkten zwei fremde Wagen quer auf der Einfahrt. Bei ihnen oder bei den Nachbarn?
„Nicht bei uns.“
„Doch“, sagte er.
Wer sollte das sein?
Die Siedlung in ihrer Straße bestand aus schachtelförmigen Bungalows, in den Siebzigerjahren gebaut, im Laufe der Zeit verändert und erweitert, es gab neue Wände und angefügte Räume, ausgetauschte Fenster, veränderte Eingänge. Auch die Farben der Hausfassaden unterschieden sich, und von den Zäunen waren nicht zwei gleich. Nur die bestenfalls mittelmäßige Bauqualität teilten alle Häuser miteinander. Michael – der vom Fach war – hatte schon manchmal über dünne Wände und verzogene Rahmen geschimpft. Sie hörte das zwar, wischte es aber beiseite. Dieser Bungalow war ihr Zuhause, da vertrug sie keine Kritik, ganz und gar nicht.
Sie kamen näher. Jonas war aufmerksam, mehr als das, er war angespannt. Sein Geburtstag und die Geschenkefrage waren vergessen, er hatte seinen Blick auf die fremden Autos gerichtet. Larissa hielt wieder seine Hand und wunderte sich über seine Aufregung, aber gleichzeitig beschäftigten sich ihre Gedanken mit der Frage, wann wohl die ersten Bäume ausschlagen würden. Es war warm, zumindest für einen Märztag; trotzdem zeigten sich in den Gärten der Nachbarn nur ein paar Schneeglöckchen und Krokusse. Bis zur Baumblüte würde es noch dauern. Vier bis sechs Wochen, schätzte sie. Bis Ostern.
„Siehst du“, stellte Jonas fest.
Er hatte recht, die beiden Autos standen vor ihrer Einfahrt. Nun erkannte sie sie auch. Dienstfahrzeuge, aus ihrer Abteilung. Der blaue Ford, den Bendix fuhr. Und der weiße Opel.
„Ich glaube, Polizei“, sagte Jonas.
Sie schluckte. „Sieht so aus.“
„Aber warum freust du dich nicht? Wenn meine Freunde kommen, dann freue ich mich.“
Sie nickte. Es war zu kompliziert, ihm zu erklären, dass ihre Kollegen nicht ihre Freunde waren, im Gegenteil, die Verhältnisse waren so, dass Larissa vorhatte, in ihre alte Abteilung, zur Sitte, zurückzukehren. Und das, obwohl sie vor einem Monat noch erleichtert gewesen war, von dort weg zu sein.
Dass sie mit zwei Autos gekommen waren, sprach dafür, dass das gesamte Drogendezernat angerückt war. In Larissas Kopf drehten sich die Rädchen. Was sollte dieser Aufmarsch bedeuten? Was wollten die vier Männer hier? Um einen Einsatz konnte es sich nicht handeln, denn dann hätten sie sie angerufen. Wie waren die Kerle überhaupt wieder zusammengekommen, nachdem Wolle und Andy bereits in den Feierabend gegangen waren? Ob Bendix sie zurückgerufen hatte?
Larissa verspürte einen Fluchtimpuls, den sie aber beiseite schob. Zusammen mit Jonas schlängelte sie sich an den beiden parkenden Fahrzeugen vorbei, die den gepflasterten Platz vor ihrer Haustür vollständig ausfüllten. Dann schloss sie die Haustür auf und rief gleichzeitig nach Michael.
An der Tür erschien Bendix. Er hatte seine Sonnenbrille ins Haar geschoben und grinste. „Larissa“, sagte er. „Da bist du ja endlich.“
„Was wollt ihr hier?“
Bendix hatte eins seiner bunt gemusterten Hemden an, das so weit offen stand, dass man seine Brusthaare sah. Darüber trug er eine schwarze Lederjacke. Sein Rasierwasser roch so stark, als hätte er gerade neues aufgetragen. Er starrte sie an, ohne eine Antwort zu geben. Sie spürte, wie er Maß an ihrem Körper nahm und sein Blick auf ihrem Busen verweilte. Sie hätte ihm am liebsten eine geknallt. Jonas hatte sich an der Garderobe hinter einen Mantel gedrückt.
Dann erschien Michael. Erleichtert atmete sie aus. Ihr Michael. Sie machte zwei Schritte auf ihn zu, bis sie unmittelbar vor ihm stand. Er nahm ihr die Einkaufstasche ab. Erst jetzt spürte sie, wie schwer das Ding gewesen war.
„Larissa, was ist hier los? Deine Kollegen wollen mir nichts sagen.“
„Ich habe keine Ahnung.“
Sie wandte sich an ihren Vorgesetzten. „Bendix, was wollt ihr von mir? Warum rückt ihr hier mit vier Mann an? Das ist meine Wohnung.“
„Wir haben den Auftrag, dich mitzunehmen.“
„Wie bitte?“
„Ich denke, du hast mich ganz gut verstanden.“